Kunst als Widerstand und Erinnerung – Ein Gespräch mit Bernice Lysania

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In Deutschland erlebe ich es so, dass Veränderungen langsam passieren. Es gibt sicherlich Fortschritte, aber sie geschehen oft im Tempo der Menschen, die Teil einer Geschichte sind, die nicht meine ist. Das macht es schwierig, sich wirklich als deutsch zu identifizieren

Bernice Lysania

Guten Abend, ich bin Audrey Noukeu von der Black Academy. Die Black Academy ist eine Organisation von Schwarzen Menschen, die das Ziel hat, Wissen und Expertise von Schwarzen Menschen ins Licht zu bringen. Heute bin ich hier mit dir, Bernice.

Also, Bernice, du kommst aus Essen, du bist multidisziplinäre Künstlerin, Poetin und Aktivistin und durch deine Arbeit unterstützt du auch BIPOC-Menschen. Ich habe ein wenig im Internet recherchiert und das, was ich gefunden habe, beschreibt deine Texte als provokant, rassismuskritisch, laut und gleichzeitig bedacht, außerdem als Ausdruck von Schwarzem und feministischem Widerstand sowie der Dekonstruktion eurozentristischer Geschichtsschreibung und Wissensvermittlung.

Habe ich etwas vergessen, oder wie würdest du dich selbst noch vorstellen?

[Bernice Lysania]

Ich glaube, du hast nichts vergessen. Was ich vielleicht  korrigieren würde, ist, dass ich mich selbst nicht als Aktivistin bezeichne. Ich weiß, dass ich oft so wahrgenommen werde, aber es ist keine Bezeichnung, die ich mir selbst gebe. Vielleicht drückt meine Spiritualität Aktivismus aus, sie ist mir als Zeichen von Aktivismus wichtiger. 

[Audrey Vanessa  Petnguen]

Du arbeitest viel mit Spoken Word Texten, drückst dich aber insgesamt durch unterschiedliche künstlerische Formen zu Themen wie Erinnerung, Identität, und Dekolonisierung aus.    Wie positionierst du dich in diesen Debatten von Identität und Selbstidentifikation? Du hast auch von Spiritualität gesprochen. Was bedeutet für dich Identität?

[Bernice Lysania]

Mir  ist es immer  wichtig, bei mir anzufangen, aus meiner eigenen Geschichte heraus. Diese Geschichte ist auch immer daran geknüpft, woher ich komme und an die Leute, die vor mir da waren. Im allgemeinen Sprachgebrauch spricht man sehr oft von Ahnen, Vorfahren , Sternchen. Eine Linie, die auf jeden Fall vor uns da war, und das zu spüren ist für mich auch immer wichtig. Was ist da? Was nehme ich da in mir wahr? Welche Freude nehme ich da in mir wahr? Welche Struktur nehme ich aus meiner Familie wahr, aber auch, welchen Schmerz nehme ich wahr? Was sind Dinge, die ich  fühlen kann und transformieren möchte, um einfach noch mal etwas Neues in eine Zukunft zu geben?

Das ist mein persönlicher Pool an Erinnerungen, in denen ich mich bewege, um Dinge zu verstehen.

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Genau dieses Selbstverständnis  von Schwarzen Menschen in Deutschland, also von Afro-Descendenten in Deutschland, ist  sehr wichtig.  Wie siehst du das? Du sprichst von da, wo du herkommst, aber siehst du dich als eine Schwarze deutsche Frau, oder was bedeutet das, Schwarze Deutsche zu sein?

[Bernice Lysania]

Ich identifiziere mich als afrikanisch und afrikanisch bedeutet für mich auch immer Schwarz; Also aus meiner Perspektiv –,  ich muss noch mehr dazu sagen, was es bedeutet  Schwarz zu sein. Lass mich kurz nachdenken. Kannst du noch einmal kurz deine Frage wiederholen?

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Ja, also was bedeutet es für dich, schwarzdeutsch zu sein? Gibt es Schwarze deutsche Menschen?  Das Thema ist ja gerade sehr präsent, man spricht und diskutiert darüber   auch aufgrund der Rassismus-Erfahrungen. Und viele stellen sich die Frage: Darf ich sagen, dass ich deutsch bin, oder bin ich afrikanisch? Oder, wie vereinigen sich diese verschiedenen Identitäten?

[Bernice Lysania]

Ja, also ich selbst bin an dem Punkt zu sagen, dass ich deutsch sozialisiert bin und bestimmt werde ich als deutsch wahrgenommen von Menschen, oder sagen wir mal eher von BIPOC-Personen, aufgrund der  Person, die ich bin, durch meine Aussprache. Aber ich bemerke  in mir  einen starken Widerstand gegen  dieses ausschließlich Deutschsein.   Ich habe nicht so das Bedürfnis danach. Natürlich gibt es Situationen und Momente, z.B. auf Reisen, in denen man mehr dieses Gefühl hat,  da spüre ich mein Deutschsein. Aber als jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, habe ich nicht dieses Gefühl. Und ich befinde mich gerade in Deutschland, da möchte ich dazugehören. Auch wenn ich weiß, mich verbinden Elemente wie Sprache, bestimmt auch Kulturgut wie Literatur, die man gelesen hat, mit gewissen anderen Menschen.

Aber ich merke, ich habe nicht den Wunsch, deutsch sein zu müssen. Das ist für mich in Ordnung, kongolesisch zu sein.  Es ist für mich in Ordnung, afrikanisch zu sein.

Afrikanisch ist sehr weit gefasst. Und da ist  dieser Aspekt der Sozialisierung. Ich gebe vielleicht ein anderes Beispiel: Ich gehe davon aus, dass, wenn ich jetzt zum Beispiel für drei Jahre in den Senegal ziehen würde,  sich Dinge in mir verändern würden. Verhaltensweisen, Gewohnheiten, die  Teil der senegalesischen Kultur sind, würden  ein Teil von mir werden.

Ob mich das gleich zur Senegalesin macht, sei dahingestellt. Aber dennoch würde ich Dinge in mir spüren, die das Gefühl auslösen, mich durch die Praxis, durch  Handlungen  irgendwie als Teil dieser Kultur zu empfinden. Aber muss ich deshalb  Senegalesin sein? Verstehst du, was ich meine? Bezüglich meiner Identifizierung mit Deutschland geht es mir genauso. Wahrscheinlich ist die wichtige Frage, – da bin ich mir nicht sicher -, ob eine Identifikation auch immer davon abhängig ist, ob andere dich akzeptieren. Es kann sein, dass das mit eine Rolle spielt.  Ja, aber ich habe nicht so wirklich den Drang danach, deutsch sein zu müssen.

[Audrey Vanessa NoukeuPetnguen]

Aber es  ist für dich auch nicht  problematisch, wenn andere Leute das  auch für sie… .

[Bernice Lysania]

Nein, das ist eine ganz individuelle Entscheidung. Klar, ich bin ja auch zum  größten Teil hier aufgewachsen. Ich hatte aber, und das kann auch ein Privileg sein, die Chance, dass meine Eltern mich auch in die Heimat haben schicken können. Und das heißt nicht, dass ich, wenn ich in der Heimat bin, dort nicht auch Identitäts- oder Adaptionsschwierigkeiten habe. Dennoch ist es für mich nochmal anders, dort in meinem Heimatgefühl und kongolesisch zu sein als einfach in Deutschland. Es kann natürlich auch Leute geben, die hier groß geworden sind und die  vielleicht auch einfach nur Deutschland kennen.

Warum sollten die nicht das Recht haben, sich auch als deutsch zu empfinden? Oder die, die einen deutschen Elternteil haben. Also ist das Deutschsein einfach Teil ihres Empfindens, Teil ihrer Kultur. Ich merke, dass ich während des Heranwachsens auch sehr oft  dieses Gefühl hatte.  Aber es war kein Gefühl, es war in meinem Kopf. Und  dann habe ich mir so etwas  gesagt  wie:  Auch ich bin afrodeutsch und ich möchte deutsch sein…

Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich das eigentlich gar nicht fühle;  dass das etwas ist, das ich so gelehrt wurde. . Aber in mir drin fühle ich das überhaupt nicht.  Es ist für mich völlig in Ordnung  einfach deutsche Staatsbürgerin zu sein und deutsch sozialisiert zu sein. Das ist in Ordnung.

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen] Das ist interessant. Du sprichst  in deiner Arbeit  auch sehr viel zum Thema Dekolonisierung von Wissen und Geschichtsschreibung.   Dekolonisierung ist ein seit einiger Zeit überall diskutiertes aktuelles Thema. Wie siehst du denn die Rolle von Kunst in diesem Prozess?

[Bernice Lysania]

Also die Rolle der  Kunst ist für mich persönlich auch nochmal eine sehr spannende, weil ich glaube, dass, – ich spreche mal nur von kongolesischer oder afrikanischer Kultur -, dass dort Kunst sehr oft etwas ist, das auch als Teil des Lebens wahrgenommen werden kann. Also nehmen wir jetzt einfach mal als Beispiel jemanden, der Skulpturen macht oder der Masken schnitzt  oder der Gefäße herstellt . Das sind sehr oft Dinge, die Teil einer Praxis sind, eines Alltagsgeschehens, wovon  Leute irgendeinen Nutzen haben.

Und so empfinde ich das  auch für mich mit meinem Schreiben. Ich habe nicht das Gefühl von:  das hier ist meine Arbeit  und das da bin ich,  sondern das Schreiben  ist ein Teil von mir und somit auch mein Beitrag zu  Gemeinschaft und Gesellschaft. Und zur aktuellen Wichtigkeit von Kunst, die Kunst ist immer wichtig. Kunst ist immer ein wichtiges Sprachrohr.

Aktuell finde ich sie  einfach noch wichtiger und ich bin der Meinung, das ist auch strukturell zu sehen. Wenn es mehr Kriege gibt oder wie jetzt im Fall von Deutschland  so viel  auch in Unterstützung zur Kriegsführung  investiert wird, sind ja gerade die ersten Streichungen an Geldern in den Bereichen Bildung und Kunst festzustellen; und das ist natürlich dann etwas,  was ich auch zu spüren bekomme.  Ich finde, Kunst  kann, muss nicht, ein Mittel sein und ist es auch sehr  oft, um auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Ich finde es  sehr spannend, dass genau in dieser Zeit genau diese Menschen, die quasi auch Räume schaffen, wo man Menschen zusammenbringt, wo man versucht, einen Dialog zu finden, den anderen zu spüren, um ins Gespräch kommen zu können, dass in Zeiten, in denen  so viel Unruhe ist, genau diese Menschen und ihre Arbeitsbereiche finanziell weniger unterstützt werden.  Es ist also  auch einfach  strukturell, gerade in Europa, sehr wichtig oder für mich sichtbar, wie bedeutend  Kunst ist.

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Und jetzt zum Thema  Kolonisierung.  Du meintest, du würdest dich selbst nicht als Aktivistin beschreiben, aber wenn du dich durch deine Arbeit sehr viel mit dem Thema  Kolonisierung beschäftigst, dann wirkt das ja auch aktivistisch. Wie wichtig ist es für dich also, durch Kunst über die Kolonisierung zu sprechen, oder was ist da deine Intention?

[Bernice Lysania]

Ich verstehe das total und vielleicht ist es auch etwas, womit ich mich  eigentlich sehr im Reinen fühle. Meine Schwierigkeit mit dem Begriff Aktivismus kann auch einfach damit zu tun haben, dass wir in Deutschland leben und wie hier aktivistische Strukturen, wie ich sie wahrnehme, aufgebaut sind, so dass ich mich damit nicht identifiziere. Ich empfinde die Bezeichnung AktivistIn ein wenig wie einen Titel.  Und wenn du  diesen Titel hast, dann gibt es auch eine Erwartungshaltung an dich, gewisse Dinge erfüllen zu müssen.

Nicht, dass ich diese Erwartungshaltung an mich nicht möchte, es geht mir einfach viel mehr darum, dass ich dann den Erwartungen entsprechen  muss. Ich habe gar keine Wahl, – also vielleicht habe ich eine Wahl, denn es gibt ja auch Leute, die sich eben nicht damit befassen. Aber wenn ich auf meine Herkunft schaue, auf meine Identität, auf meinen Prozess, dann hat Rassismus einfach immer eine Rolle gespielt. Das heißt für mich, ich kann das gar nicht wegdenken, ich kann gar nicht nicht aktivistisch sein, und daher rührt die Frage:  Warum muss ich mich dann so nennen?

Verstehst du ein bisschen, was ich meine?  Ich mache das, was ich tue, ganz intrinsisch, weil ich das brauche, um zu überleben. Ich muss das machen, um Überleben zu sichern für Menschen, die gerade leben und für eine Zukunft.

Ich habe  das Gefühl, dass dieser Begriff Aktivismus  ein Modewort  geworden ist. Für mich ist es  kein Modewort, sondern es ist mein Überleben, ich muss so handeln. . 

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Ja, ich kann es ganz gut verstehen, vor allem, weil man vielleicht einfach da sein, also  einfach existieren möchte und nicht immer, wie du zum Beispiel  sagst, auf das Thema  Rassismus angesprochen werden will. Ich glaube, das  gilt für uns alle, die  wir in der  Black Academy unterschiedliche Backgrounds haben. Eigentlich sind wir aus anderen Gründen nach  Deutschland gekommen.  Aber am Ende muss man über Rassismus sprechen, weil es  ein Schutzmechanismus ist, eine Überlebensstrategie, wir müssen das  machen.

[Bernice Lysania]

Ob du dich AktivistIn nennst oder nicht -,  und ab wann ist man das dann? Wie viel muss ich denn machen, um AktivistIn zu sein?  Ist  die Person an der Haltestelle, die ein Gespräch mit jemandem führt,  in dem es um antirassistische Aufklärungsarbeit geht,  dann nicht auch schon ein Aktivist?

Also weißt du, das ist einfach Teil unserer Realität und deshalb brauche ich für mich diesen Titel  nicht.

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Wie siehst du angesichts der Diskussionen über systemischen Rassismus die Rolle von Kunst? Manchmal wird Kunst als etwas Abstraktes, Schönes betrachtet, etwas, das außerhalb unserer Realität steht. Aber wir leben in einer Welt, in der Rassismus allgegenwärtig ist, und wenn alle Rassismus dekonstruieren, muss in allen Bereichen, also auch in der Kunst, etwas getan werden.

Was, würdest du sagen, muss sich in der Kunst ändern, damit sie einen größeren Beitrag im Kampf gegen systemischen Rassismus oder koloniale Kontinuitäten leisten kann? Oder hast du das Gefühl, dass in der Kunst schon genug gegen Kolonialismus und Rassismus getan wird?

[Bernice Lysania]

Die Frage ist einfach: Was genau ist Kunst? Es gibt verschiedene Sparten, und jede hat ihren eigenen Bereich, fast wie verschiedene Berufsgruppen. Ich denke, man kann gesamtgesellschaftlich sagen, dass in allen Bereichen noch mehr getan werden könnte, um zu dekonstruieren. Das wäre meine Antwort. Gleichzeitig wird aber auch nicht genug dafür getan.

Ich würde lieber nur über Blumen schreiben. Es ist nicht so, dass ich keine Texte habe, die sich nicht mit Themen des Postkolonialismus und der Dekolonisierung  befassen. Aber es gibt eine größere Resonanz auf diese Themen, und es besteht ein größeres Interesse an meiner Person in Bezug auf diese Themen, weil sie als neu wahrgenommen werden. Für mich war es wichtig damit anzufangen, weil das Schreiben für mich ein Mittel ist, mich selbst zu erfassen, mich selbst zu dekonstruieren und Aspekte in mir zu dekolonisieren.

Mein erster Text, „Ursprung“ war mein erfolgreichster und wird am häufigsten angefragt. Der Text ist jetzt wahrscheinlich zehn Jahre alt, und ich bin nicht mehr die selbe Person wie die, die ihn geschrieben hat, aber er wird immer noch stark nachgefragt. Es ist ermüdend für mich, aber anscheinend braucht die Welt diesen Text. Man hat mir gesagt, es werde  noch lange so sein, und ich werde diesen Text wahrscheinlich rezitieren, bis ich 80 bin. Wer weiß, ob sich bis dahin etwas ändert.

Ich erinnere mich an einen Tag, als ich im Kongo saß und mich fragte: Worüber würde ich schreiben, wenn ich nicht über Rassismus schreiben würde? Ich habe gemerkt, dass es Zeit braucht, um nicht darüber zu schreiben. Der Ort hat es mir ermöglicht, diesen Gedanken zu fassen, weil ich dort nicht ständig im Alltag daran erinnert wurde, dass ich Rassismus erlebe oder dass ich eine Schwarze Frau bin. Dann habe ich etwas geschrieben und gemerkt: Ah, es ist möglich, über etwas anderes zu schreiben. Aber auch wenn ich aus meiner eigenen Realität schreibe und gerade im Kongo bin, gibt es immer noch Dinge, die mit Kolonialität verbunden sind. Doch ich habe für mich gespürt, dass es einen Unterschied macht, von wo aus ich schreibe und was ich gesellschaftlich wahrnehme.

Es ist kein Zufall, dass schreibende Menschen sich oft zurückziehen und abgrenzen, um zu sehen, was in ihnen aufkommt, wenn sie den Geist freimachen. Es ist etwas anderes, als wenn du ständig in einem Umfeld bist, das dich triggert und in Gewalterfahrungen zurückwirft. Es ist ein Privileg, sich diesen Themen entziehen zu können und wirklich nur über das zu schreiben, was die eigene innere Seele ausdrücken will. Dieses Privileg habe ich noch nicht oft genug, aber ich hätte es gerne mehr.

 [Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Aber was denkst du, beziehungsweise was würdest du empfehlen, was in der Kunst oder in den verschiedenen Kunstformen getan werden muss, um zur Abschaffung oder Dekonstruktion von Rassismus und kolonialen Kontinuitäten beizutragen?

[Bernice Lysania]

Ich denke, es beginnt immer damit, bei sich selbst anzufangen. Zuerst muss man sich für diese Thematik sensibilisieren und ein Verständnis dafür entwickeln. Denn es sind schließlich die Menschen, denen du begegnest, die auch in Institutionen aktiv sind, in denen Kunst stattfindet. Wer wird in diese Räume eingeladen? Wer leitet ein Kunstmuseum und aus welcher Perspektive betrachtet diese Person die Kunst? Welche Kunst hat sie überhaupt für sich entdeckt ? All diese Dinge prägen die Institutionen und beeinflussen, wer eingeladen und repräsentiert wird.

Es fängt also beim Einzelnen an. Das Bewusstsein muss sich ändern, ebenso der Blick auf die Welt. In Deutschland haben wir eine weiße Mehrheitsgesellschaft, die bei sich selbst anfangen muss. Gleichzeitig sehe ich, dass in Deutschland auch noch eine große ungeheilte Wunde in Bezug auf die eigene rassistische Gewalt oder Täterschaft existiert, die nie richtig aufgearbeitet wurde. Das wirft für mich die Frage auf: Wenn diese große Wunde nicht richtig angegangen wird, kann ich als Schwarze Person überhaupt viel erwarten?

Für mich ist das ein Zeichen, dass ich als Schwarze Person vorsichtig sein muss, wenn dieser Teil der Geschichte so wenig beachtet wird. Klar, ich sehe auch Veränderungen in der Gesellschaft, aber das hat damit zu tun, dass Menschen in den Strukturen stecken, die versuchen, von innen und außen Prozesse zu starten. Auf allen Ebenen müssen Menschen eingeladen, Diskurse geführt und muss Kritik angenommen werden. Meine persönliche Wahrnehmung ist, dass Meckern in Deutschland tatsächlich etwas bewirkt. Man sagt ja oft, dass in Deutschland viel gemeckert wird, aber meiner Meinung nach hat das auch eine Wirkung – wenn auch langsam.

Vielleicht ist dieses langsame Tempo aber gar nicht so langsam, sondern es entspricht dem Tempo der Menschen, die Teil einer Geschichte sind, die nicht meine ist. Und das ist manchmal auch der Grund, warum ich Schwierigkeiten habe, mich als Deutsche zu identifizieren. Hätte ich vor einigen Jahrzehnten hier gelebt, wäre ich nicht Teil der deutschen Täterschaftsgeschichte gewesen. Das ist ein großes Thema, das für mich auch zur Identität gehört. Natürlich gibt es auch die Rolle der Opfer – es gibt ja auch Deutsche, die Opfer wurden. Aber diese ungelöste Täterschaftsgeschichte bewegt etwas in mir. Und ich frage mich oft: Wie kann man mit dieser Geschichte so wenig umgehen? Es ist eine schreckliche Geschichte, die tief in kolonialen Strukturen verankert ist. Warum sollte ich mich damit identifizieren wollen?

  [Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Du hast ja bereits viele Auftritte hinter dir und bist eine bekannte Künstlerin. Viele Menschen laden dich ein, weil sie deine Texte kennen und sich dafür interessieren. Glaubst du, dass die Leute deine Botschaften wirklich verstehen? Spürst du, dass deine Texte einen Einfluss auf sie haben?

[Bernice Lysania]

Verstehen ist eine schwierige Sache, oder? Ich glaube nicht unbedingt, dass es immer ums Verstehen geht. Vielmehr denke ich, dass die Menschen emotional berührt werden – sie fühlen, was ich sage, selbst wenn sie es nicht vollständig verstehen. Sie bekommen ein Gespür dafür, wie es sich anfühlt, in meiner Haut zu sein. Ob sie wirklich alles begreifen, weiß ich nicht genau.

Es gibt sowohl positive als auch negative Reaktionen auf meine Texte. Wenn Menschen sich durch meine Worte getriggert fühlen und diese ablehnen, zeigt das auch, dass etwas in ihnen berührt wurde. Das bedeutet für mich, dass sie vielleicht mit etwas konfrontiert wurden, das sie lieber vermeiden würden. Und genau darum geht es: Es muss nicht immer angenehm sein. Es sind schwierige Themen, und ich versuche nicht, es den Menschen leicht zu machen. Bei manchen löst es auch Scham aus, und das ist in Ordnung. Wichtig ist, dass sie sich erlauben, dieses Gefühl zu spüren.

Wir alle wachsen in einer Gesellschaft auf, in der wir unsere Emotionen und unseren Schmerz oft unterdrücken. Für mich geht es darum, diese unterdrückten Gefühle zuzulassen. Wenn jemand nach einem meiner Texte spürt: „Wow, ich habe das in Bezug auf dieses Thema noch nie so gefühlt“, dann ist das für mich ein wichtiger Schritt zur Selbstannahme. Und genau das sage ich den Menschen auch: „Ich werde jetzt ein paar unangenehme Dinge sagen, und was in dir hochkommt, darfst du dir anschauen und mit nach Hause nehmen – egal ob es positiv oder negativ ist.“ Es kann wehtun, aber nur so können wir als Gesellschaft vorankommen, wenn wir uns diesen unangenehmen Teilen in uns selbst stellen.

Ich habe lange gebraucht, das zu verstehen. Manchmal sagen die Leute nach meinen Texten: „Oh, dein Text war wunderbar“ und umarmen mich spontan. Aber eigentlich geht es dabei oft darum, dass sie ihre Schuldgefühle auf mich abladen wollen. Ich gehe dann nach Hause und fühle mich schlecht. Irgendwann habe ich gelernt, den Leuten zu sagen: „Es gibt keinen Grund für eine Umarmung. Dieser Text sollte sich für dich nicht angenehm angefühlt haben.“

Wenn mir jemand sagt, dass mein Text „schön“ war, passt das einfach nicht. Da stimmt etwas nicht, und es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Das finde ich besonders spannend an meiner Arbeit.

[Audrey Vanessa Noukeu Petnguen]

Vielen Dank! Es war interessant für mich, diesen Austausch zu haben und dich kennenzulernen

[Bernice Lysania]

Danke, dir auch danke für das  Interview, einen schönen Tag noch.

Zitate aus dem Interview

„Verstehen ist eine schwierige Sache. Ich glaube nicht, dass es immer ums Verstehen geht, sondern darum, emotional berührt zu werden. Die Leute fühlen, was ich sage, selbst wenn sie es nicht vollständig begreifen. Es muss nicht immer angenehm sein – es geht darum, sich diesen unangenehmen Teilen in uns selbst zu stellen.​

„Schreiben ist für mich ein Mittel, mich selbst zu erfassen, mich selbst zu dekonstruieren und Aspekte in mir zu dekolonisieren. Es ist ermüdend, immer wieder über dieselben Themen zu sprechen, aber anscheinend braucht die Welt das noch.“

„Ob ich mich Aktivistin nenne oder nicht, ist für mich nicht wichtig. Ich mache das, weil ich es muss – es ist mein Überleben. Ich habe keine Wahl, nicht aktivistisch zu sein, weil Rassismus immer eine Rolle in meinem Leben gespielt hat.​

„In Deutschland erlebe ich es so, dass Veränderungen langsam passieren. Es gibt sicherlich Fortschritte, aber sie geschehen oft im Tempo der Menschen, die Teil einer Geschichte sind, die nicht meine ist.Das macht es schwierig, sich wirklich als deutsch zu identifizieren.“